Wir sitzen beim Kaffee. Der Stollen, der jedes Jahr von einer lieben Freundin aus Sachsen zu uns kommt, ist schon erheblich kürzer abgegessen worden. In ein paar Tagen ist Weihnachten. Wir reden übers Fernsehprogramm, wie es sich jedes Jahr wiederholt: „Sissi“, „Der kleine Lord“, und dann die ganzen Märchenfilme, von denen das Aschenputtel wohl am häufigsten gesehen wird. Nach Weihnachten dann allerhand Klamauk, und na klar, „Dinner for One“! Das kennt man ja alles schon in- und auswendig. Ich frage meinen Mann: „Sag mal, ist das ein Tigerkopf oder ein Eisbärkopf, über den der Butler James stolpert?“ „Ich bin mir da nicht sicher“, meint er, „kann beides sein.“ „Das kann doch wohl nicht wahr sein“ sage ich, „da sieht man es jedes Jahr wieder und erinnert sich nicht dran, worüber er sich x-mal fast lang legt? Na, das werden wir gleich wissen!“ Ich nehme mein Smartphone und gebe dort bei Google „Dinner for One“ ein. Es erscheint sofort die Mediathek mit dem gewünschten Bildschirmbild. Nochmal drauf tippen, und schon geht’s los. Das Smartphone wird schräg aufgestellt, sodass wir beide das doch so gut Bekannte verfolgen können. Miss Sofie sitzt schon auf ihrem Platz, James geht mit seinem typischen wackeligen Gang durchs Speisezimmer. Es ist dann deutlich zu sehen, da liegt ein gestreiftes Fell auf dem Fußboden, natürlich ein Tigerfell! Genau das wollten wir eigentlich nur wissen, aber nun schauen wir uns den ganzen Film an, wir lachen und amüsieren uns. Gleich Admiral Schneider. Der arme James! Er wird immer betrunkener. Er trinkt das Blumenwasser auf dem Tisch aus, stolpert etliche Male über den Tigerkopf, läuft ein Stück die Treppe hinauf, packt Miss Sofies Stuhl, so dass sie nach hinten zu fallen droht; sie kreischt. Alles wie immer. Springt er nun drüber über den Tigerkopf? Nein, noch nicht, aber gleich. Wir kennen das Stück, amüsieren uns viel zu früh. Das Silvester-Ritual haben wir vorweggenommen.
Ich denke nach, warum es dem armen James immer wieder passiert, über den Tigerkopf zu stolpern. Würde man das Ding wegnehmen, dann gäbe es die Stolperfalle nicht mehr, aber auch den Film nicht. Das ist ja gerade der Clou. The same procedure as every year.
Und noch etwas kommt mir in den Sinn: Miss Sofies Freunde leben nicht mehr. Sie ist allein übriggeblieben. So ist es im Leben, wenn man älter wird. Liebe Menschen verabschieden sich nach und nach von uns. Für die, die sehr alt werden, ist das ganz besonders so. Und bestimmt nicht angenehm. Und so wünscht man sich an besonderen Tagen auch seine schon gegangenen lieben Menschen besonders stark herbei. Und eigentlich ist gerade das gar nicht witzig! So ist das Leben.
Mir fällt ein, dass auch mir dauernd etwas Blödes immer wieder passiert. Ich bleibe ganz oft mit meinem Ärmel an einer Türklinke hängen. Besonders, wenn ich meine Strickweste mit den weiten Ärmeln trage. Neulich erst, als ich zu schnell um die Ecke lief, wurde ich sehr heftig im Lauf gestoppt. Ich dachte der Ärmel hätte diesmal ein Loch bekommen, ging aber nochmal gut. Am schlimmsten war es einmal mit einer vollen Tasse heißem Tee. Ich verbrannte mir die Finger und musste auch aufwischen. Die Tasse blieb zum Glück heil. Ich weiß nicht, wie oft ich schon an Türklinken hängengeblieben bin. Ich ärgere mich drüber und denke: „Mann, schon wieder!“ Das wird sich wohl nicht ändern. Es wäre ganz leicht, mit mehr Entfernung zur Klinke durch die Tür zu gehen. Vor allem, nicht so eilig! Aber wäre mir das nicht so oft passiert, könnte ich es jetzt nicht erzählen. Wenigstens kriegt das nur manchmal mein Mann mit!
Wir Menschen brauchen unsere Rituale. Da stehen wir also Silvester mit einem Glas Sekt oder was auch immer, verabschieden das alte Jahr mit viel Lärm und Knallerei und hoffen auf ein gutes Neues Jahr, wünschen uns gegenseitig dasselbe. Dann werden wir innerlich aber oft ganz still, ich jedenfalls. Wir gehen in uns und denken an das, was war, danken den guten Mächten und bitten, dass es gut oder besser weitergehen möge. Nicht nur für uns, sondern für all unsere Lieben und alle Menschen, überall auf der Welt. Wir wissen nicht was kommen wird. Wir möchten Frieden. Besonders in diesem Jahr.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gesundes, friedliches Jahr 2024!
Herta Andresen