Sie kamen 1945 als Flüchtlinge aus Ostpreußen und fanden eine Unterkunft bei Möllgaard in Schnarup (heute Thiessen). Mutter Herrman musste mit ihren vier Töchtern aus der Heimat fliehen. In Stettin trafen sie unverhofft auf ihren Vater. Dieser war aus dem Kriegsgeschehen entlassen, denn er hatte im Gefecht ein Bein verloren. Nun mussten und konnten sie die weitere Flucht als ganze Familie bewältigen.
Endlich in Schnarup angekommen wurden sie freundlich von Frau Woye (Kriegerwitwe) aufgenommen. Frau Woye beherbergte noch zwei weitere Familien in ihrem Bauernhaus. Sie half beim Ankommen und sorgte in der ersten Not für Essen. Mutter, auch Kriegerwitwe, half Frau Woye oft, besonders morgens und abends beim Melken. Dadurch freundeten wir uns schnell mit den beiden jüngeren Töchtern an, denn wir waren oft auf dem Hof. Im Kuhstall war es für uns immer schön warm und die Steckrübenschnitzel schmeckten gut.
Emil Herrman entdeckte schnell das Schnitzen für sich. Als erstes fertigte er für sich eine Prothese an. Sie drückte ihn oft. Er nahm sie ab. So saß er oft vor derTür und fertigte allerlei brauchbare Sachen an, denn es fehlte so viel. Meist saß er draußen. Später baute er sich eine kleine Laube, die dann seine kleine Werkstatt wurde. Dann fertigte er für seine Töchter Schuhe an. Von Frau Woye erhielt er Pferdegeschirr, das nicht mehr Verwendung fand. Dieses benutzte er als Schuhleder. Die Sohle schnitzte er aus Holz. Zu jener Zeit konnte man nichts kaufen, weder Schuhe noch andere Sachen. Nur Lebensmittel konnte man auf Lebensmittelkarten kaufen, war aber sehr eingeschränkt. Aus Kleidung von Soldaten, Fahnen, konnte man Sachen für die Kinder fertigen. Aber keine Schuhe, und die Füße wuchsen. So trugen viele Kinder im Dorf Holzschuhstiefel, die von Onkel Herrman – so hieß er inzwischen – gefertigt wurden. Von Bauern erhielt er weiter altes Pferdegeschirr. Er hat fleißig gearbeitet. Man konnte gut darin laufen. Nur im Schnee wurden die Füße feucht und kalt. Das gab dann Frostbeulen in den Zehen. Wenn die Füße abends in der Stube warm wurden, begann das große Jucken. Ich kann mich gut daran erinnern. Das war eine andere Zeit.
Frau Woye heiratete in dieser Zeit und hieß jetzt Möllgaard. Alle packten mit an und machten sich nützlich.
Doch dann kam die Zeit der Umsiedlung. Flüchtlinge konnten dabei sein, um dann in Gebieten zu wohnen, wo es bessere Arbeitsbedingungen gab.So kam es auch für die Herrman-Familie. Inzwischen war ein Onkel von mir mit einer älteren Tochter verlobt und ging mit auf die Reise. Der Abschied war schwer. Frau Möllgaard sagte: „Wenn es Ihnen dort nicht gefällt, dann kommen Sie einfach wieder, ich nehme Sie wieder auf.“ Das war eine gute Zusage. Nach nur vier Wochen waren alle wieder da. Die Großstadt machte ihnen Angst; sie kamen sehr gerne zurück.
Die Familie Herrman bezog noch zwei andere Wohnungen, blieb aber Schnarup treu. Vater Emil Herrman erhielt eine Arbeitsstelle als Kraftfahrer. Die Familie zog noch gemeinsam ihren ältesten Enkel auf, an dem sie viel Freude hatten. Emil Herrman starb 1975 an Krebs. Im gleichen Jahr verunglückte seine jüngste Tochter mit Enkelin tödlich. Es war kaum zu ertragen für die ganze sehr verbundene Familie, besonders für Anna Herrman.
In den achtziger Jahren verstarb noch eine liebe Tochter. Das war sehr schwer zu überwinden. Ihre letzten Jahre konnte Oma Herrman bei ihrem Enkel verbringen. Sie verstarb mit neunzig Jahren.
Gerda Zielke